In der Familie meiner Mutter wurde immer schon fantastisch gut gestrickt, aber nähen konnte man nur so für den Hausgebrauch.
Zweimal im Jahr ließ man Bertl, eine Schneiderin, ins Haus kommen, die dann für alle weiblichen Familienmitglieder (vom Baby bis zur Frau) neue Kleider anfertigte - zwei für den Alltag, zwei für Festtage und den Sonntagsgottesdienst. Zu Hochzeiten und Beerdigungen wurde dieselbe Schneiderin engagiert, sie kleidete dann die ganze Familie ein.
Meine Mutter war immer fasziniert von Bertl's Schneiderkünsten, die aus scheinbar unverwendbaren Reststückchen in der bitteren Nachkriegszeit die fantasievollsten Kleider zauberte. Sie kam aber nie dahinter, wie das mit dem Schnittmuster und der richtigen Anpassung wirklich gemacht wurde, denn die Schneiderin skizzierte die einzelnen Teile ohne Papiervorlage direkt auf den Stoff, schnitt sie grob aus und drapierte dann passend am Körper der zukünftigen Trägerin. Echte Maßanfertigung also, heute fast unbezahlbar.
Das letzte Kleid, was Bertl anfertigen sollte, war das Hochzeitskleid meiner Mutter aus wundervoller handbestickter Seide, doch leider starb die Schneiderin unerwartet, noch bevor der Stoff geliefert wurde. Meine angeheiratete Großtante Anni, eine sehr patente fränkische Pfarrersfrau, erbarmte sich und nähte das Kleid für meine Mutter, allerdings unter der Voraussetzung, dass meine Mutter mithalf. Sie zeigte ihr geduldig alle wichtigen Grundtechniken, erklärte die ersten Schnittmuster und verhalf meiner Mutter dadurch zu einem neuen Hobby.
Als Kind durfte ich immer zwei Sommerferienwochen bei Tante Anni im großen Pfarrhaus verbringen, die schönsten Ferien im ganzen Jahr. Ich lernte von ihr häkeln, sticken, knüpfen, Seidenmalerei und Puppenkleider mit der Hand nähen.
Erst als ich mit 16 ein Abschlussballkleid brauchte und kein passendes fand, weil ich meine Alltagskleidung immer noch in der Kinderabteilung kaufen konnte, durfte ich an die Nähmaschine. Ich meldete mich am Gymnasium für den freiwilligen Handarbeitsunterricht an und begann gleich als erstes Projekt mit einem Cocktailkleid aus fliederfarbenem Satin. Warum einfach, wenn's auch schwierig geht - das ist bis heute so geblieben. Einfache Schnitte oder Projekte vermurkse ich gerne mal, da wird aus Langeweile schnell geschludert und geschlampert. Erst wenn ich mit einem komplizierten Modell vor einer großen Herausforderung stehe, nehme ich mir Zeit, alles ordentlich und korrekt zu arbeiten, dem Modell mehr Sorgfalt angedeihen zu lassen und mich nicht selbst zu hetzen. Das hat über die Jahre dazu geführt, dass ich in erster Linie selbstgenähte Abendgarderobe besitze und meine Alltagskleidung eher kaufe. Seit ein paar Jahren versuche ich das aber zu ändern und auch einfachen Projekten dieselbe Aufmerksamkeit zu schenken. Ich will unabhängig von der aktuellen Mode auch im Alltag meinen Stil und meine Farben tragen können.