Sodele, bin zurück. Hier war ja schwer Betrieb!
Ich schreibe zwei Posts: diesen hier als einen Näh-Passform-Psycho-Philosophischen und nachfolgend einen, wo es sich wieder um deine Jacke dreht.
Ich habe keine belastbaren Statistiken zum Thema, aber mindestens 70-80% der Frauen, die ich beim Nähen kennengelernt habe, tun dies entweder ausschließlich oder haben es zumindest angefangen, weil sie so frustrierende Erfahrungen mit der Passform und Auswahl von Konfektionsware gemacht hatten.
Das bedeutet übrigens nicht, dass dies immer mit Größe 44 aufwärts einhergeht - man kann ohne Probleme vom Umfang her eine 38 sein und in der dreidimensionalen Ausformung des Körpers sowie einigen körperlichen Besonderheiten nichts finden, was passt.
Dass du dich entschieden hast, aktiv was gegen den Frust zu unternehmen und selbst zu nähen, ist also goldrichtig!
Schnittmusterhersteller stehen aber vor demselben Problem wie Konfektionshersteller: Sie müssen Gewinn machen, also verkaufen. Daher orientieren auch sie sich an Reihenmessungen, die alle paar Jahrzehnte durchgeführt werden. Wer aus der Reihe tanzt, findet also auch keine sofort aus dem Tütchen, Magazin oder eBook perfekt passenden Schnittmuster.
ABER: Unser großer Vorteil ist, dass wir uns die Schnitte auf den Leib schneidern, sie an unsere dreidimensionale Form anpassen können!
Leider ist das Wissen um Passform nicht so einfach aufzuschreiben, Nähen war jahrelang auch ein bisschen trutschig mit überschaubarer Zielgruppe und viele Nähkurskursleiterinnen und selbst Schneidermeisterinnen können meiner persönlichen Erfahrung nach nicht immer alles lösen.
Ich möchte nochmal auf anderem Wege verdeutlichen, vor welchem Dilemma Konfektions- wie Schnittmusterhersteller stehen. Und ich komme im zweiten Post auf diese Hirngymnastik zurück.
- Stell' dir einen Liter Wasser (oder Wein oder Bier ) vor. Dieser Liter Flüssigkeit kann in jede beliebig geformte 1-Liter-Flasche gefüllt werden. Es gibt einige Konventionen bezüglich der Form von Flaschen, die wir als "normal" empfinden. Aber wenn einem Designer danach ist, könnte er eine total wild, "abnorm" geformte Flasche machen - und es wäre immer noch eine 1-Liter-Flasche.
- Letztlich sind unsere Körper auch nur Volumen - wenn auch ein bisschen mehr als 1 Liter. Und unsere Anatomie bringt einige Einschränkungen mit sich. Aber das Prinzip gilt nichts anderes: Wir können identisches Volumen haben, aber total anders geformt sein.
- Ein Konfektions- oder Schnittmusterhersteller arbeitet natürlich nicht mit Volumen, sondern mit Umfang. Und wie du wahrscheinlich gemerkt hat, selten öfter als mit drei Maßen: Brust, Taille, Hüfte. In welchem genauen Abstand diese Umfangmessungen gemacht werden, wie Muskeln, Knochen, Fett- und Bindegewebe den Körper zwischen diesen drei Umfängen formen, können sie nicht wissen. Aber für die Passform hat genau das große Bedeutung!
- Selbst der Umfang aber sagt nichts über die Verteilung aus! Am deutlichsten wird das beim Brustumfang. Nimm drei Frauen mit jeweils Umfang 96 cm:
Die erste hat einen breiten Brustkorb + Rücken und Körbchengröße A.
Die zweite hat einen schmalen Brustkorb + Rücken und Körbchengröße D.
Die dritte hat einen "normal" breiten Brustkorb + Rücken und Körbchengröße B.
Ergo wirst du für jede der drei den Umfang anders auf Vorder- und Rückenteil verteilen müssen. Und das ist nur ein einziger Umfang und nur ein simples Beispiel ... und schon verwirrend individuell. Ahnst du nun, warum es so schwierig sein kann, gut sitzende Kleidung zu finden, egal wieviele Zentimeter jemand irgendwo misst? Und warum wir alle miteinander keine Aliens sind, sondern nur sehr individuell geformte Frauen? Kein Konfektions- und Schnittmusterhersteller kann das leisten. Nur gute Maßschneider. Oder wir Hobbyschneiderinnen!
Und deshalb geht's nun zu deiner Jacke!