Die Herren in der ersten Reihe lauern auf das Scheitern des Kandidaten.
Liefern wir ihnen das Popcorn dazu:
1.
Kleidung ist nichts anderes als ein System kommunizierender Röhren unterschiedlich bemessener Rohrquerschnitte. Von Relevanz sind die Abzweige, wenn Nebenröhren von der Hauptröhre abgehen, also die Verbindungsführung Arm-Torso-Kragen.
2.
Um mir dies überhaupt einmal in die Vorstellung zu bringen, habe ich mir Minimodelle geschnitten und spiele damit herum und schaue was passiert, wenn man hier was wegschnippelt und dort was dranfügt und wie die Partie aussieht, wenn man's dann wieder aufklappt.
Das ist höchst amüsant, da das Gehirn beim Übergang vom Zwei- ins Dreidimensionale nicht kontinuierlich und stringent weiterarbeiten kann, sondern 'springen' muss, also eine neue Denkebene, einen Strukturwechsel eröffnen muss.
Es gibt jede Menge Leute, die nicht mal einen Würfel abwickeln können und wer kleine Kinder hat, kann gut beobachten, beim Pappschachtelbau, beim Spielwürfelfalten,
wie sehr das Denken hier stutzt und nicht weiter weiß und rätselt und dann der kolossale Zauber, wenn sich Flächen in Kuben verwandeln!
3.
Ganz fesselnd ist Torsion. Wenn man Flächen parallel verschiebt, eindreht oder knickt, bringt man Spannung in das Element und es faltet sich von alleine auf.
Man müßte also eine Schnitttechnik entwickeln, bei der Kleidungsstücke nicht kraftlos in sich zusammensacken wie Wäsche im Wäschekorb, sondern von sich aus offen bleiben und im Volumen.
Dies müßte einhergehen mit einem Maß an Bequemlichkeit, die, vereint mit elastischem Material dem Urbild aller Schnitte, nämlich menschlicher Haut, sehr nahe kommt, ohne in Trikot zu enden.
Aber das ist was für Fortgeschrittene und ich bin noch beim kleinen Einmaleins.
4.
Jetzt aber geht es erst einmal darum, einen Parka hinzubekommen.
An einem Parka kann man praktisch nichts falsch machen.
Ein Parka paßt immer, den kann man gar nicht falsch schneidern.
Selbst drei Nummern zu groß, gürtelt man sich einfach einen Strick um den Bauch und schon sitzt das Teil wie angegossen.
Ich allerdings möchte einen elaborierten Parka, einen stadtfeinen und keinen für Schützengräben,
daher gebe ich mir Mühe.
5.
Die berechtigte Frage ist: Warum kauft er sich nicht einen?
Warum verschwendet er Unmengen Zeit in diese Schneidertüftelei?
Ganz einfach:
Der Textilmarkt wird beherrscht von wenigen Großkonzernen,
von der Tradition des 'Haben wir schon immer so gemacht',
der Einfallslosigkeit des Verbrauchers und
dem Diktat kalter Ökonomie mitleidsloser Rationalität.
So ist das gesamte Outdoorsegment vollkommen in der Hand von Plastikgewebeherstellern:
Polyester, Polyamid, Polypropylen, Polydingsbums.
Eine simple Jacke aus reiner Baumwolle, von Bio nicht zu reden,
kann man suchen gehen.
Wolle und Leinen, Hanf oder Seide: Pustekuchen.
Schlimmer noch hat es die Schuhbranche erwischt. Ein marketingstarker Folienproduzent hat sich den gesamten Outdoormarkt unter den Nagel gerissen und man bekommt keinen Wanderschuh mehr ohne dieses Tex-Mex-Zeugs. Völlig hirnrissig, weil die Folie in Bälde an den Gehfalten reißt und dahin ist die Wasserdichtigkeit. Fragt man den Handel, hört man: 'Der Kunde wünscht das so, also ordern wir das so.'
Im Textilbereich gibt es noch Traditionshersteller,
die aber aus guten Gründen ausscheiden:
- Barbour hat dieses muffige, übelriechende Öl-Wachstuch, das beim Anfassen pappige Finger hinterläßt, zur Ikone erklärt und verkauft seine sackartigen Jacken nur über kluges Marketing (James Bond, Queen, Prinz Charles...)
- Filson schneidert seine Mackinaw ohne Innentaschen und ohne Innenfutter.
- Aero ist zu kurz und belastet die armen Schultern mit 5 Kilogramm und plus Tascheninhalt schleppt man dann einen halben Kasten Bier mit sich herum, also unzumutbar, ist ein Kleidungstück zum Sitzen, war ja auch mal Pilotenjacke, und nicht zum Bewegen.
-Nigel Cabourn schneidert zu militärisch, zu wenig alpin und tuchseits großteils so brettlhart, da kann ich gleich Teppichfließen in Form von Harris-Tweed anlegen. Außerdem überbezahlt.
-Armeekampfjacken haben mir zuviele Insignien des Hauen und Stechens, wiewohl man hier oft noch am besten bedient wird mit funktionalen Bekleidungsstücken ausgesuchter Robustheit zu gutem Preis.
-Bei den Maßkonfektionären bekommt man nicht mal eine zweite Brusttasche und ordentliche Balgtaschen stehen nicht zur Auswahl, auch nicht gegen Aufpreis.
-Bleibt der Gang zum Maßschneider. Diesen Spleen hatte ich vor Jahren und vierstellige Beträge in Sakkos, Hosen und Anzüge investiert und festgestellt: Trotz feinster Schneiderware, trotz dem ganzen sartorialen Gebräu, Schneiderkante, unfixiertem Brustplack, offene Ärmelknöpfe: Ich fühle mich darin nicht wohl, sondern gehemmt.
-Was mir gefällt sind einzelne Stücke der BarbourTokito-Kollektion, aber leider aus unsäglichem Tuch, und hierzulande, weil limitiert, schwer zu bekommen und nur zu horrenden Preisen.
6.
Selber machen ist in ghandischer Tradition der Gang zum Meer,
sich sein Salz selber zu schöpfen.
Selber machen ist ein Grundrecht des Menschen.
Selber machen ist Autonomie und Emanzipation.
Erst im Selbermachen und nicht im Kaufen entfaltet sich Integrität.
Daran kann niemandem gelegen sein.
Deswegen ist Selbermachen ein oppositioneller Akt, er ist subversiv, marktradikal.
Er ist in der Anti-Entmündigung.
Man kann das an MüllerSohn festmachen.
Die verbreiten keine Lehrwerke, sondern Anleitungen.
Denen kann nicht daran gelegen sein,
dass der Selberschneider das Selberschneidern profund versteht und sich autonom macht.
Die würden kein einziges Buch mehr verkaufen.
Also etablieren sie in möglichst komplexem System ein Herrschafts-Wissen,
das den Kunden abhängig macht, das er nie kapiert, immer nur nachahmt,
und ständig ergänzen muss: Grundlagen, Trachten, Herren, Damen, Gradierung, Röcke und Hosen, Jacken und Mäntel, je Band rund 100 Euro.
Man läßt sich Wissen bezahlen.
Diesen Sachverhalt muss man sich auf der Zunge zergehen lassen,
denn er hat nichts mit MüllerSohn zu tun,
sondern mit der Etablierung von Macht über KnowHow
und deren merkantiler Verwertung auf allen Ebenen menschlichen Tuns.
Wenn man sich die Konsequenzen hieraus erschließt,
das Horten von Wissen, das Vorenthalten, die vorsätzliche Schaffung von Mangellagen
und die daraus resultierenden menschlichen Beziehungen,
dann wird man ein Fan von Wikipedia und von Foren wie diesem,
darin Menschen in einem unentgeltlichen Geben und Nehmen konträrökonomische Verbindungen eingehen,
auch wenn die meisten Foren werbeorientiert sind
und über möglichst viele Forenten
und deren kostenlos bereitgestellten Beiträgen und also möglichst viel Traffic
den Anzeigenpreis in die Höhe schrauben können
und damit möglichst viel Geld verdienen.
7.
Selberschneidern ist ein Kulturakt,
eine multidimensionale Schau und Nachvollzug menschlicher Bekleidungsbemühungen von der Steinzeit bis zur Nacktheit und ein Beitrag zur Dedehumanisierung industrieller Arbeitswelten.
Es mag sein,
dass meine Schneiderunternehmung in manchen Augen die Grenze der Lächerlichkeit längst überschritten hat.
Ich aber glaube, dass es mit vergleichsweise simplen Mitteln, geistigen wie materiellen,
meine Nähmaschine etwa ist nicht computergesteuert, sondern von 1960,
möglich ist, sich eine Jacke zu fertigen,
die den persönlichen Bedürfnissen besser gerecht wird,
als jedes Industrieprodukt.
Und zwar aus folgendem Grund:
8.
Die Industrie kann auf mich keine Rücksicht nehmen,
weil sie mich gar nicht kennt.
Industrie schneidert anonym, für Massenbedürfnisse und Massengeschmack und Durchschnittswerte von den Maßen bis zur Ausstattung bis zur Gestaltung.
Das ist der erste Grad der Dehumanisierung, der zweite setzt sich fort in den Arbeitsbedingungen derer, die fertigen für Kunden, die sie nicht kennen und im dritten Grad, da Textil verkauft wird mit Produktzuschreibungen, deren Qualitäten dem Objekt nicht innewohnen.
Man muss das alles negieren.
Ich z.B. denke mir meinen Parka zuvorderst von den Taschen her.
Als nicht Handtaschenträger frage ich mich,
wie ich die Utensilien des täglichen Bedarfs im Kleidungsteil unterbringe
und zwar so griffbereit und so bewegungsaffin wie nötig.
Denn im Gebrauch zählt weniger die Güte der Konstruktion,
als die Form der Taschen, die Praktibilität der Eingriffe,
die Sicherheit der Verschlüsse und deren flüssige Handhabung,
also täglich zigmal ausgeführte Gesten.
Und daher ist eine Bekleidung nicht statisch zu denken, sondern mobil.
Man muss Bekleidung gestenorientiert gestalten und kommt dann zu völlig anderen Aufbauten,
als sie etwa den Stehanzugträgern in etikettiertem Kalkül auferlegt wird,
als Code, dem es sich unterzuordnen gilt, bei Gefahr sozialer Ausgrenzung bei Mißachtung.
Deswegen ist eine Jacke immer auch ein Politikum, ein Statement
und sie gibt die Nähe zu Establishment und Soziabilität preis,
verortet seinen Träger im gesellschaftlichen Gefüge
und dem kommt man nicht aus.
Deswegen ist Bekleidung immer ein Gesamtkunstwerk,
darin von der Religion bis zur Identitätszuschreibung sämtlicher Gehirnschmalz seines Fertigers einfließt und das ist das sakrisch Spannende daran.
Bekleidung ist niemals nur Bekleidung.
Bekleidung ist immer in der Transzendenz.
Sie reicht von den Tiefen anthropologischer Herkünfte bis zum banalen Verstauen mitgeführter
Gerätschaften in angemessener Praktikabilität.
Unsere Schulen lehren so etwas nicht mehr.
Sie lehren Abspeichern, Anwenden, Diagnose, Austauschen, Wegwerfen, Neuproduktion.
Es ist ein Trauerspiel.
Es ist kompletter Irrsinn.
Schneidern hilft.
Selber.
Selbst.