Dies ist ein Blogeintrag, der am 07.11.2012 erstmalig und exklusiv bei der Hobbyschneiderin veröffentlicht wurde. Merkbefreit mit Attest ist eine etwas andere Autorenplattform.
Die Pleite der P+S Werften in Stralsund und Wolgast als relativ aktuelle Beispiele sind eigentlich nur die Spitze eines widerlichen Eisbergs. Den Mitarbeitern auf den Werften ging es jahrelang gut. Jetzt ist das Gejammer groß, verständlicherweise. Aber es gibt auch kleine, feine Punkte, die sich in der Summe mit Sicherheit quer durch die Republik ziehen.
Reine Theorie: Der Werftarbeiter Paul verdient gutes Geld, wird nach geltenden Tarifverträgen bezahlt. Keine Ahnung, was er die Stunde verdient, aber mehr als ein Euro wird´s mit Sicherheit sein. Jetzt nicht mehr, der Insolvenzverwalter hat ihm den Stuhl vor das Werfttor gestellt.
Bislang hatte Paul sein Leben im Griff. Paul ist ein Sparfuchs. Er rannte mit seinem sauer verdientem Geld los, und kaufte nach jahrelangem Sparen eine Familienkutsche eines asiatischen Herstellers. Und auch beim Einkaufen sparte er, bis es blutet. Spielzeug für die Kinder? Bunt, Kunststoff, billig – am besten aus ´nem Ramschmarkt. Zum Fleischer? Paul ist doch nicht wahnsinnig! Gehacktes bekommt er auch im Supermarkt zum halben Preis. Brot, Brötchen? Ja, täglich, aber bitte billig. Was denken sich die Bäcker bei den Preisen eigentlich – da kauf ich lieber im Discounter. Ein neuer Fernseher musste her! Beratung? Wozu? Paul ist schlau, weiß alles und spart beim Kauf im Internet.
Zu Hause ist er dann doch zu dämlich, das Gerät vernünftig zu bedienen. Aber da ist der Fachhändler vor Ort ja da und gibt kostenlos Tipps und Tricks. „Was für ein Arschloch…“, dachte Paul, als der Fachhändler ihn abweist. Warum soll der für eine primitive Auskunft bezahlen? Und wenn zu Hause etwas kaputt geht, stöhnte Paul über den Preis der Arbeitsstunde eines Handwerkers. Von den Rechnungen im Autohaus für Wartung und Reparatur einmal ganz zu schweigen.
Was wäre, wenn der nach Tarif bezahlte Werftarbeiter Paul zum Beispiel ein chinesisches Gehalt bekommen hätte? In Shanghai betrug das Mindestgehalt im letzten Jahr 188 US-Dollar, das sind heute ca. 146 Euro.
Ich hätte ihm die Erfahrung einmal gegönnt…
Heute guckt Paul aus dem Fenster und überlegt, ob die Schiffe, die er mit seinen Kollegen gebaut hat, demnächst auf chinesischen Werften gebaut werden.
Kommentare 1
noiram
Danke für den Spiegel!
Manchmal braucht man es, dass man den Blickwinkel ändert. Ich bin ja auch ein Sparfuchs - habe mich sehr über mein Stoff-Schnäppchen gefreut, dass im Fachhandel deutlich mehr gekostet hätte.
ABER …. was wäre gewesen, wenn ich diesen Stoff nicht entdeckt hätte? Hätte ich mir dann in dieser Menge Stoff im Fachhandel gekauft? Nein, ganz bestimmt nicht! Ich hätte mich auf meine abgelagerten Schätzchen beschränkt und das ein oder andere Projekt überhaupt nicht in Angriff genommen. Jetzt brauche ich im Gegenzug Garne und Accessoires für meine Projekte (insbesondere für die Kostüme), die ich nur im Fachhandel bekomme …. und ich bin kein Internetkäufer, dafür bin ich zu haptisch veranlagt …. ich muss es "angrabbeln" können!
Deshalb habe ich für meine wichtigen Produkte meine speziellen Dealer, die auch nicht unbedingt um die Ecke sind (z.B. für meine Untertischdecken den Fachhandel in Westerstede, für bestimmte Gemüse "meinen" Bauern, Käse bei dem Käsehändler in Winschoten, Wurst beim Metzger in Moormerland, ….)
UND …. was wäre mit dem Stoff passiert, wenn er nicht über diesen Laden verkauft würde? Verbrannt oder in beliebiger anderer Form vernichtet. Das hilft dem Fachhandel auch nicht.
Andererseits gibt es bestimmt Bereiche, in denen ich auch Raubbau an unserer Gesellschaft betreibe …. ich geh mal überlegen und mich schämen!